Montag, 13. April 2009

Zeitlos aktuell.

Welchem Beruf immer ein hoffnungsvoller, junger Mensch sich zuwendet, er wird in Vorbereitung zum Beruf so viel lernen und später bei seiner Ausübung so viel arbeiten müssen, daß er einfach keine Zeit hat, über andere Wissensgebiete auch nur einigermaßen orientiert zu bleiben. Er hat nicht einmal genug Zeit, um "zu sich zu kommen", zu reflektieren. Die Reflexion aber ist eine konstitutive Eigenschaft des Menschen, sie ist ein Menschenrecht, und die in Rede stehende Entwicklung unserer Kultur, bedeutet einen Verlust an Menschlichkeit. Ganz sicher ist es das Gefühl für diesen Verlust, das so vielen jungen Menschen das Leben sinnlos erscheinen läßt. Dieses Sinnlosigkeitsgefühl ist, wie Viktor Frankl sagt, charakteristisch für eine Massenneurose, die heute unsere westliche Kultur ergriffen hat.

(...)

Ein echter Massenwahn der heutigen Menschheit besteht in dem Irrglauben, es habe nur dasjenige reale Existenz, was sich in der Sprache der exakten Naturwissenschaften ausdrücken und quantifizierend beweisen läßt. Damit wird die ganze Welt der Emotionen, werden menschliche Würde und Freiheit, kurzum alles, was einen wirklichen Wert darstellt, für Illusion erklärt. Zu diesem Irrglauben trägt der Umstand bei, daß für jeden Menschen nur das wirklich erscheint, womit er täglich umgeht, worauf er wirkt und was auf ihn zurückwirkt. Dies aber ist für die Mächtigen und Verantwortlichen dieser Welt, die man unter dem Modewort der "Lobbies" zusammenfassen kann, ausschließlich das Geld. Mit ihm lassen sich außerdem wunderschöne mathematische Operationen vornehmen.

Paradoxerweise halten sich diese Geldmenschen für Realisten und wollen nicht verstehen, daß ein exponentielles Wachstum der Wirtschaft im endlichen Rahmen unseres Planeten zur Katastrophe führen muß. Den Ökologen, der ihnen vorrechnet, wie bald diese Katastrophe zu erwarten ist, halten sie merkwürdigerweise für einen Träumer, der sich in nostalgischen Illusionen nach grünen Wäldern und singenden Vögeln sehnt. Das man nur das essen kann, was die Photosynthese in diesen grünen Pflanzen erzeugt, begreifen sie nicht und die Sage von König Midas macht ebensowenig Eindruck auf sie wie die Aussage des alten wienerischen Sprichwortes, daß man goldene Nockerl nicht fressen kann.

- Konrad Lorenz, 1979 (Vorwort zu: Viktor E. Frankl - Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn)

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