Sonntag, 28. Februar 2010

Realität.

Nur ein winziger Bruchteil, von dem was wir wahrnehmen, sind echte Sinneswahrnehmungen. Der überwiegende Teil unserer Wahrnehmung sind Konstruktionen des Gehirns, in dem sich Erinnerungen und Erwartungen zu einem kunterbunten Allerlei aus Fiktion und Realität mischen.

Worte sind Segen und Fluch. Selbst die einfachsten Dinge lassen sich in all ihren Facetten nicht in Worte fassen.

Die bösartigsten, realitätsverzerrendsten Worte sind Rollenbezeichnungen. Denke ich z.B. 'Mutter', reduziert sich ein einzigartiges Wesen mit all seinen Facetten, Bedürfnissen, Neigungen, Stärken und Schwächen zu einer bloßen Kategorie, einem Bündel teilweise völlig absurder Erwartungen und Vorstellungen.

Die Welt verändert sich radikal, wenn man den Dingen und ganz besonders den Menschen keine Bezeichnungen mehr gibt, sondern sich stattdessen bemüht, die Realität, so gut es eben geht, wirklich wahrzunehmen (mit der entsprechenden Skepsis natürlich, was Sinneswahrnehmungen im Allgemeinen betrifft).

Vor ein paar Tagen las ich einen kurzen, kaum vier Seiten langen Text von Charles Baudelaire mit dem Titel 'Das doppelte Zimmer'. In der ersten Hälfte beschreibt er sein Zimmer in wundervollen Worten. Seine Geliebte ist anwesend, das Zimmer ist in wunderbares Licht getaucht, ihr herrlicher Duft durchströmt den Raum, jedes Ding scheint von sich heraus zu leuchten, er stellt sich die vor ihm liegende Nacht vor. Bevor er sich zu ihr legt, läutet es an der Tür, er verläßt den Raum und kehrt wenige Momente später in das selbe Zimmer zurück, das sich nun scheinbar völlig verändert hat. Nichts leuchtet mehr. Er riecht den Moder seiner heruntergekommenen Herberge, den kalten Zigarrenrauch, sieht den Dreck und Staub auf den zerschlissenen Möbeln, die altersbedingten Makel am Körper seiner Geliebten.

Weder die erste Beschreibung des Zimmers noch die zweite kommt der Realität nahe. Die Welt da draußen ist wie sie ist, weder gut, schlecht, schön oder häßlich. Sie ist alles davon gleichzeitig und auch nichts davon. Der eine sieht auf einem Spaziergang heute so kurz nach der Schneeschmelze überall nur Dreck und Verwüstung, der andere sieht das aufkeimende, neue Leben, die Wasservögel, die zu balzen anfangen, verliebte Paare, erstes Grün.

Ich denke, ich weiß nun, was schiefgelaufen ist. Irgendwann habe ich vergessen - oder besser verlernt - hinzusehen. Ich habe mich in Rollen verloren, im Job wie auch privat, und wenn das geschieht, kann man nur mehr verlieren, denn zwangsläufig bleiben Bedürfnisse übrig, die zu keiner der Rollen passen und natürlich läßt sich auch keine einzige Rolle vollständig ausfüllen.

Ein geklauter Satz:

Nur dumme Menschen machen ihr Leben lang immer dasselbe.

Auf diesen Seiten hier begegne ich ständig einem Fremden.

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