Donnerstag, 22. Juli 2010

Über Hühner und Eier.

Wer die eigene Vergangenheit nach Ursachen und Wirkungen durchforschen will, steht grundsätzlich vor einem Huhn-Ei-Problem: was ist 'nur' erlernt und nachgeahmt (also Umgebungseinfluss), was ist Teil des eigenen Wesens, d.h. die eigenen freien Entscheidungen?

Je deutlicher mir das Wesen der Zeit meiner Kindheit ist (1968-1983), je deutlicher ich das individuelle Schicksal meiner Eltern aus deren Perspektive nacherleben und nacherfühlen kann, um so deutlicher sehe ich die Spuren meiner Kindheit und die Spuren ihrer eigenen Leben in meinem eigenen.

Eins der emotionalen Grundresümees meiner Kindheit lautete: wenn ich tagtägliche Nähe nicht über einen längeren Zeitraum leben kann, werde ich nicht Vater. Dieses Grundresümee gründet sich sowohl auf die eigene Perspektive (das Vermissen des Vaters bzw. der Nähe zu ihm) wie auch der tagtäglichen Indoktrination meiner Mutter, die gerne und lautstark ihrer 'vereinsamte Hausfrau'-Paranoia nachgab und selbst für ein Kind offensichtlich die Wirklichkeit extrem verzerrte. Anstatt das Ungeheuer zu sein als das sie ihn in ihren einsamen Schimpftiraden darstellte, war mir schon als Kind bewußt, das 'das mit Nähe' einfach nicht seins war. Wann immer er konnte entzog er sich, arbeitete lieber am Haus oder in den Wäldern. Im Gegensatz zu meiner Mutter habe ich ihn meist als den friedfertigsten Menschen erlebt (gerade im Umgang mit ihr und ihrem Gezetter).

Heute, nach vielen, zum Teil schlimmen Jahrzehnten der Ehe scheint meine Mutter ihn endlich "lassen" zu können. Teilweise ist es geradezu rührend anzusehen, wie sehr sie dem idealen Großelternpaar entsprechen, das mal einzeln, mal zu zweit, aber fast in allem einstimmig auftritt und nicht minder erstaunlich ist es, wie leicht und geschickt sie die unbändigbar erscheinenden Prinzesschen meiner Schwester in nette, kleine Mädchen verwandeln können. Was jedoch auch auffällt: das wirklichkeitsverzerrende Gezetter ist noch nicht ganz verschwunden.

Trotzdem: die Engelsgeduld meines Vaters konnte ich selbst nie aufbringen. Mögen es die Umstände meiner frühen Sozialisierung sein, mag es Intelligenz, die sich Bahn bricht, sein - im Grunde ist es völlig egal, warum uns etwas umtreibt. Wichtig ist nur, das es als Bedürfnis real und nicht eingebildet vorhanden ist.

Als Faktum bleibt die Erkenntnis, das mein Bedürfnis nach Nähe und nach menschlichen Interaktionen gering ist. Sobald eine Beziehung tagtägliche Aufmerksamkeit fordert, scheitere ich nach einer gewissen Zeit (und seien es Jahre), weil es mir nicht mehr gelingt in 'Arbeitstrance' (Hyperfokussierung auf ein Thema) zu gelangen und ich in Routinen zu ertrinken scheine. So schnell gemeinsame Rituale entstehen, so schnell werden sie auch hohl, werden sie mir zu Last, bildet sich der Eindruck einer Pflicht. Gut gemeint ist wirklich alles andere als gut - und gut gemeint habe ich es immer, habe auf die unterschiedlichsten Arten das eine oder andere zu leben versucht und bin doch schlußendlich damit gescheitert. Nach zig Anläufen entkräftet sich jedes Argument Richtung Zufall durch simple Wahrscheinlichkeit: genauso wahrscheinlich ist eine Serie an Lotterietreffern.

Im Grunde will ich jeden Moment mit voller Leidenschaft leben. Weder denke ich in Kategorien wie Arbeit und Freizeit oder in Tagesrhythmen wie Frühstück/Mittag/Abendessen. Alles Äußere bleibt solange Zwang und Pflicht, solange ich mich nicht zu 100% (auch über Tage) fokussieren darf.

Das Beste geben. Jeden einzelnen Moment. Und das aber völlig zwanglos, weil es sowieso aus einem hervorquillt und nicht zurückzuhalten ist und weil es vor allem einzig der Freiheit über die eigene Aufmerksamkeit bedarf.

Momentan erlebe ich mich am Gipfel meiner persönlichen Freiheit bezüglich meiner eigenen Aufmerksamkeit. Tage-, Wochen- und Monate kann ich mich ausschließlich auf einzelne Themen konzentrieren, darf mein eigenes Forschungszentrum sein, OHNE den fast zwangläufigen Preis der Beziehungslosigkeit zu bezahlen. Je mehr sie mich genau so sein läßt, umso intensiver und leidenschaftlicher wird unsere gemeinsame Zeit an den Wochenenden.

Die eigene Wohnung, die alleinige Zuständigkeit für deren Zustand und alle anderen Aspekte des tagtäglichen Lebens, ist für mich ein absolutes Muß. Weder ist eine gemeinsame Wohnung ein erstrebenswertes Ziel, noch zwei Wohnung, die eigentlich eine einzelne Wohnung an verschiedenen Orten ist. Ich muß es selbst spüren, wenn z.B. der Kühlschrank leer bleibt, weil ich unter der Woche die paar Minuten Einkaufen nicht erübrigen will. Ich mag den Selbstdisziplinierungseffekt. Ich mag es, Schritt für Schritt immer mehr Unwesentliches aus dem Alltag zu entfernen. Was nicht zufrieden und glücklich macht, was nur Ausprägung eines Suchtverhaltens ist, fliegt raus.

Manchmal erscheint mir meine Vergangenheit als fast wahllos zusammengewürfelte Serie verschiedenster Leben. Das einzig Gemeinsame scheint nur deren Unterschiedlichkeit zu sein. Aussehen und Wesen der jeweiligen Partnerin variiert über das gesamte Spektrum, die Form der Partnerschaft genau so. Anstatt das sich langsam ein konkretes Leben zu konstituiert, das gelebt werden will, herrscht geradezu völliges Chaos.

Schluß damit. Wenn mein Verstand schon ständig in geistigen Welten abtauchen will und teilweise innerhalb von wenigen Wochen und Monaten ganze Studienrichtungen durchackert, dann soll er. Oft genug habe ich mich dagegen entschieden und anderes versucht - aus Liebe, aus Verständnis oder aus mißverstandener Pflicht. Glücklich bin ich dabei nie geworden. Ganz im Gegenteil. Was uns glücklich macht, läßt sich nicht erzwingen.

Was jedoch aus meiner Perspektive ein gleichmäßiger, ununterbrochener Fluß ein und derselben Leidenschaft, die sich in den verschiedensten Aspekten des Lebens ausdrückt, ist , stellt sich aus ihrer Perspektive (der eines Familienmenschen) als schwerwiegendes Nähe-Distanz-Problem dar.

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