Freitag, 13. März 2009

Lebensgeschichten.

Auch die meisten unserer verschiedenen Lebensgeschichten sind falsche Geschichten, zweifelhafte Geschichten, unvollständige Geschichten. Meist haben wir nicht vor, zu täuschen, aber oft ist es notwendig. Um in unserem Leben weiterzukommen, von einem Ort zum anderen zu gelangen, müssen wir irgendwann eine Geschichte vorweisen: Dies und das bin ich, dies und das will ich, dahin und dorthin will ich gehen. Um erwachsen zu werden, uns in die Gesellschaft zu integrieren, mit anderen umzugehen, in unserem Leben weiterzusegeln, brauchen wir Geschichten, Identitäten, plausible Charaktere und vorwärtsschreitende Erzählungen, die eine Handlung voranbringen. Aber sogar die Geschichten, die wir uns selbst erzählen, um unser Leben voranzutreiben, sind unweigerlich ganz und gar oder teilweise falsch. Manchmal sagen wir, wer wir sind, um uns selbst oder jemand anderen zu überzeugen, doch eigentlich sind wir das gar nicht. Manchmal sind wir nahe daran, zu sagen, wer wir wirklich sind, aber niemand glaubt uns. Und manchmal sagen wir nicht, wer wir sind, weil es nicht die richtige Zeit oder der richtige Ort dafür ist. Während wir unsere eigene Geschichte praktisch anwenden, geht uns auf, dass wir viele Geschichten haben, wahre, zweifelhafte, falsche Geschichten - wie jeder Mensch, den wir kennenlernen.

Gibt es denn so etwas wie eine wahre Geschichte? Oder wenigstens eine Geschichte, die einstweilen wahr ist? Und ob sie nun wahr ist oder nicht - was heißt das eigentlich, dass wir unsere Geschichte leben? Die Suche nach den Antworten auf diese Fragen treibt uns voran auf der Heimreise: Wir müssen die wahrste Geschichte erzählen, die wir für das Leben, das wir jetzt leben, finden können.

Aber keine Geschichte kann völlig wahr sein. Solange wir am Leben sind, ist unsere Geschichte immer zweifelhaft, weil sie ja noch nicht vorbei ist. Was als Nächstes geschieht, könnte sie ändern, genauso wie zuweilen am Ende eines Romans etwas geschieht, das die ganze Vorstellung, die wir uns von dem Roman gemacht haben, verändert.

Norman Fischer: Zen oder die ewige Heimkehr des Odysseus

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